Innovationen werden in der Automobilindustrie bisweilen gern von oben gestreut: das Topmodell ist Innovationsträger und Stück für Stück werden die Technologien dann über die kleineren Baureihen gegossen. Immer wieder gibt es aber kleine Ausnahmen von dieser Regel. So wie es Mercedes nun mit der neuen E-Klasse macht – und die S-Klasse bisweilen ganz schön alt aussehen lässt.
In Puncto Design ist die neue E-Klasse jedenfalls das, was sie bisher nie so richtig war: eine kleine S-Klasse. Die Designsprache von Gordon Wagener wird bei Mercedes nun konsequent auf alle Modelle übertragen. Die einen sprechen vom eindeutigen Markengesicht, für andere werden die neuen Baureihen damit vor allem eins: verwechselbar. Und bei aller Uneinigkeit, die ich in diesem Punkt mit Bjoern habe, muss ich ihm in einem Punkt Recht geben: Mercedes beginnt jetzt erst mit dem, was Audi bereits seit Generationen macht. Ob die Unterschiede zwischen den Generationen so marginal wie in Ingolstadt ausfallen werden, wird die Zukunft zeigen müssen.
Dass man sich bei Mercedes aber nicht einfach nur auf den Lorbeeren der S-Klasse ausruht, veranschaulicht – neben dem Technologiefeuerwerk, das die Schwaben abbrennen – am deutlichsten der Innenraum. Nein, ich konnte mich nicht mit dem Cockpit der S-Klasse anfreunden, insbesondere nicht mit den beiden stumpf hineingezimmerten Displays. Die gibt es nun auch in der E-Klasse, sie wurden jedoch deutlich stimmiger integriert – auch wenn ich mir nach wie vor wünschen würde, es gäbe keinen schwarzen Displayrahmen, gerade zwischen den beiden Displays.
Trotzdem: gerade der Innenraum ist eine pure Wohlfühloase geworden, die man sich allerdings erst mit etlichen Häkchen in der Aufpreisliste teuer erkaufen muss. Virtual Cockpit, (traumhaft) schöne Ambientbeleuchtung oder das mit feinem Leder überzogene Armaturenbrett bleibt in der Serienausführung alles etwas, von dem die meisten Taxifahrer nur träumen dürfen.
Gleiches gilt (möglicherweise) für den Federungskomfort. Kurzum: das von mir gefahrene Air Body Control Fahrwerk, ein Mehrkammer-Luftfederfahrwerk, ist ziemlich grandios. Den Stern auf der Haube gediegen auf und ab schwingend entlang einer portugiesischen Küstenstraße zu cruisen, dazu in den perfekt geformten Sitzen gebettet zu sein – sehr viel besser ginge es nur noch mit einem kräftigen V8 unter der Haube. Das erstaunliche jedoch: die Sänfte kompromittiert das sportliche Vorankommen nur erstaunlich wenig.
Auf der Landstraße bot sich für mich zwar keine Möglichkeit, die E-Klasse auch nur ansatzweise sportlich zu bewegen, dafür ermöglichte Mercedes uns auch einen Ausflug auf die Rennstrecke Estoril – genau, jenen Kurs, auf dem in den Neunzigern auch die Formel 1 ihre Runden drehte.
In der komfortablen Nicht-Sportlimousine auf der Rennstrecke
Zeit also, andere Saiten aufzuziehen: vom Taxifahrer zum Rennfahrer. Tiefe Sitzposition und enge, tief ausgeformte Sitze sorgen allein schon dafür, dass man sich nicht gerade fühlt, wie in einer Business-Limousine. Den Rest müssen dann aber Fahrwerk, Motor und Getriebe richten: und dafür ist der E400 4Matic mit V6-Biturbo, 333 PS, Allradantrieb, Air Body Control Fahrwerk und der neuen 9-Gang-Automatik ausgerüstet. Soviel vorab: nicht eine Komponente offenbart erkennbare Schwächen.
Im Sport+ Modus will der E von Seitenneigung nicht viel wissen, lenkt zackig und direkt ein. Untersteuern lässt sich zwar nicht verheimlichen, allerdings dürfen wir auch nicht vergessen, dass wir hier eben nicht in einem Sportmodell sitzen. Der permanente Allradantrieb mit starrer Lastverteilung, 33% vorn, 67% hinten, unterstützt aber konstruktiv, um entstehendes Untersteuern – zumindest ein Stück weit – zu neutralisieren.
Sogar die 9-Gang-Automatik erweist sich auf der Rennstrecke als guter Sparringpartner. Auch wenn sie schnell auf manuelle Eingaben reagiert: das Bedürfnis, händisch die Gänge zu wechseln, kam quasi nie auf. Die Software entscheidet im Sport+ Modus selbstständig zu den richtigen Zeitpunkten, wann ein niedrigerer Gang sinnvoll ist, schaltet vor Kurven frühzeitig zurück und bleibt, hält man das Auto mit wenig Gas unter Zug, im passenden Gang.
Noch erstaunlicher als die Performance des Antriebs, ist aber schon fast die Standfestigkeit der Bremsanlage. Noch einmal: das hier ist kein ausgewiesenes Sportmodell! Und dennoch lässt sich das ganze System vom harten Einsatz auf der Strecke kaum aus der Ruhe bringen. Sicher, 4 oder 5 Runden am Stück würden dem E400 sicherlich auch zusetzen, aber mal unter uns: wer fährt eine „normale“ E-Klasse schon auf der Rennstrecke?
E 350d – Souverän und laufruhig, E 220d – modern, aber nagelig
An der Motorenfront gibt es freilich noch mehr zu berichten. Meine Testfahrt ließ mir noch einige Minuten im E 350 d und im E 220 d. Ersterer ein alter Bekannter, laufruhig, drehmomentstark und wohl der perfekte Reisemotor. Letzterer eine komplette Neuentwicklung, mit der Mercedes den in Europa nach wie vor so wichtigen Dieselmotor weiter fördern will. Der Testeindruck war sehr kurz, insofern ein paar Stichworte: toller Drehmomentverlauf, gutes Ansprechverhalten, tolle Kombination mit der (in jeder Variante serienmäßigen) 9-Gang-Automatik, allerdings: akustisch ein echter Taxidiesel und aller Dämmung zum Trotz nicht zu überhören. Dafür: 400 Nm Drehmoment, 194 PS und gerade 3,9 Liter Verbrauch.
Hier ist allerdings noch lange nicht Schluss, denn das Technikfeuerwerk der E-Klasse hat schließlich nicht nur mit Motor, Getriebe oder Fahrwerk zu tun. Über den Innenraum sprachen wir bereits, über das nagelneue User Interface des Virtual Cockpits hingegen noch nicht. Es sieht um Längen besser aus, als noch das der S-Klasse. Die Menüstruktur ist bisweilen allerdings noch etwas gewöhnungsbedürftig und die ein oder andere Funktion, die eindeutig vorhanden sein muss, ließ sich auch nach 2 Tagen Suche immer noch nicht finden. Ein Beispiel: im Dashboard, das dem Fahrer angezeigt wird, gibt es die Möglichkeit im rechten Drittel eine Navigationskarte einzublenden. Für diese lässt sich auch die Zoomstufe verändern, denn in einem anderen Fahrzeug war die auch anders eingestellt. WIE das allerdings funktionieren soll? Can und ich konnten die Frage nicht beantworten.
Technik pur im E-Klasse Cockpit
Ansonsten geht die Steuerung der beiden Systeme (das Virtual Cockpit vor dem Fahrer + das Infotainment zur Mitte hin) mithilfe der Touch-Elemente im Lenkrad wunderbar von der Hand und in Puncto Usability wirft das System nur wenige Fragen auf – wenn man mal davon absieht, dass man zur Einstellung der Massagefunktion erst unnötigerweise etliche Menüebenen durchschreiten muss. Und Assistenzen hat sie an Bord – Junge, Junge! Fangen wir bei den üblichen Klassikern an: adaptiver Tempomat, Spurhalteassistent, Einparkassistent, Auffahrwarner und erstmals – wie auch in Ingolstadt – Matrix-LED-Scheinwerfer. Neu aber: ein autonomer Ein- und Ausparkassistent, der sich von außen Steuern lässt. Per Handy und App. Ganz einfach, ebenso, wie die E-Klasse mittels NFC-Handy einfach geöffnet und gestartet werden kann. Einen Zündschlüssel braucht es nicht. Noch besser: man kann sogar andere Menschen per Internet berechtigen, das eigene Fahrzeug mit ihrem NFC-Handy zu öffnen.
Und dann wäre da freilich noch der funkelnagelneue „Drive Pilot“. Mit ihm ist in Kombination mit dem adaptiven Tempomaten (Distronic), der nun auch Tempolimits selbstständig berücksichtigt, teilautonomes Fahren auf einem ähnlichen Level wie bei Tesla möglich: die E-Klasse hält dank Lenkpilot die Fahrspur mit bis zu 210 km/h selbständig für bis zu 60 Sekunden – entweder auf Basis der Fahrspurerkennung oder auf Basis der vorausfahrenden Fahrzeuge, wenn etwa in Baustellen die Fahrspur nicht eindeutig erkant werden kann. Letzteres funktioniert bis 130 km/h. Der Lenkassistent soll dabei noch etwas aktiver sein, als es bisher der aktive Spurhalteassistent war. Und ja: die E-Klasse wird deutlich sauberer mittig in der Fahrspur gehalten, engere Autobahnkurven macht das System – obwohl eigentlich möglich – in unserem Test trotzdem noch nicht mit.
Hinzu kommt dann noch der aktive Spurwechselassistent, welcher die neue E-Klasse selbstständig die Fahrspur wechseln lässt, sobald der Fahrer den Blinkerhebel für mindestens 2 Sekunden aktiviert hält und das Umfeld laut Sensoren ausreichend sicher ist. Ja, das Auto sorgt auch dafür, dass es keine Spinner gibt, die das Auto fahren lassen und sich auf die Rückbank verkriechen: reagiert der Fahrer nach 60 Sekunden nicht auf die optischen und akustischen Warnungen, bremst die E-Klasse automatisch bis zum Stillstand ab und aktiviert unterhalb von 60 km/h die Warnblinker. Das im Zweifel auch auf der linken Spur auf einer Autobahn.
Fazit
Die neue Mercedes-Benz E-Klasse ist ein großer, großer Wurf. Wenn ich auch optisch zwar mit dem W213 etwas anfangen kann, aber keinerlei Emotionen empfinde, ist die Technik unter dem Blechkleid umso beeindruckender. Dazu gehört der Innenraum für mich schlicht zum besten, was es derzeit auf dem Markt gibt. Ergonomie, Komfort, Sitzposition, Raumgefühl, Materialien – es ist einfach alles vom feinsten! Das edle Burmester Soundsystem klingt großartig, die Sitze sind ein Traum, sprich: das hier ist der „place to be“! Schade, dass wohl kaum ein Taxifahrer in den vollen Genuss dieser Wohlfühloase kommen wird, denn dafür werden einige etliche Kiloeuro schwere Häkchen in der Aufpreisliste fällig sein.
Text: sb
Fotos: sb/Werk
Technische Daten
Mercedes-Benz E 350d
- Motor-Bauart:
- V6 DOHC Common-Rail Turbodiesel
- Hubraum:
- 2.987 cm³
- Leistung:
- 190 kW / 258 PS bei 3.400 U/Min
- Drehmoment:
- 620 Nm bei 1.600 – 2.400 U/Min
- Höchstgeschwindigkeit:
- 250 km/h
- Beschleunigung (0-100 km/h)
- 5.9 Sekunden
- Verbrauch (innerorts / ausserorts / kombiniert):
- 6.6 L / 4.9 L / 5.5 L Diesel
- Grundpreis Mercedes-Benz E 350d:
- 55.602 €
- Testfahrzeugpreis:
- 100.263 €
- Leergewicht:
- 1.800 kg
- Max. Zuladung:
- 640 kg
- Abmessungen (Länge/Breite/Höhe):
- 4.923 mm / 1.852 mm / 1.468 mm
Disclosure zur Transparenz
Ich wurde von Mercedes-Benz nach Lissabon, Portugal eingeladen. Reisekosten, Verpflegung und Übernachtung wurden von Mercedes-Benz übernommen. Der Text spiegelt meine persönliche Meinung wieder.
20 Kommentare
Warten wir mit Spannung auf S-Mopf.
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50 k Grundpreis, 100k der Testwagen.
Bissi albern ist das schon.
Japp, das ist ziemlich dämlich. Wie es Robert auch kürzlich schon festgehalten hatte: wenn du das Ding mit allen Paketen ausgestattet hast, musst du trotzdem nochmal 120€ für die NFC-Features zum Aufschließen hinlegen..
Andererseits: einen aktuellen A6 bekommst Du auch locker auf 100-110k € und der kann dann bei weitem nicht das, was die E-Klasse kann (gut, der ist auch schon alt und selbst der MoPf liegt ein Jahr zurück).
Ich finde die Preisgestsatung affig.
Ich meine, selbst als Vorstands-Dienstwagen sind 100k eine Menge Holz.
Und dann ist es eine E-Klasse, also nicht das Top-Modell (bzgl. „Brähsdiesch“).
Das ist so 1980er und da hat auch kaum jemand eine „volle Hütte“ bestellt – aber die Entwicklungskosten der Gadgets zahlen alle mit.
Nun ja, ich würde sowieso eher Maserati oder Jaguar fahren – in dem Preissegment.
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