Über 600 PS und Allrad: Weltuntergangsstimmung bei allen AMG-Fans! Aus den wilden, rohen Axtmördern werden nun plötzlich zahme Viecher? Keine Sorge: an dem ist nichts zahm! Und ganz neu ist das mit dem Allrad ja auch nicht. Auf Tuchfühlung mit dem neuen Mercedes-AMG E 63 S 4MATIC+.

Mercedes-AMG E 63 S 4MATIC+

AMGs sind schon immer dafür bekannt, wilde Hooligans zu sein: jede Frage wird mit einem Schlag ins Kreuz beantwortet; jede Antwort bedeutet wüste Eskalation an der Hinterachse. So kennen wir sie, die Affalterbacher. Und es gibt Menschen die befürchten, ein serienmäßiger Allradantrieb wäre nun der erste Schritt zu langeweile – schließlich haben sie die wild bollernden V8-Sauger ja auch schon in Rente geschickt. Doch keine Sorge, denn im Gegensatz zum bisherigen Allradantrieb des Vorgängers, der noch mit starrer Lastverteilung – 33 zu 66 – unterwegs war, ist die neue 4MATIC+ vollvariabel, grundsätzlich aber hecklastig ausgelegt. Im Normalfall ist die Vorderachse also nur minimal ins Geschehen eingebunden und wird dann hinzugepfiffen, um Fahrdynamik und Traktion zu optimieren.

„Dorifto Mode!“

Dabei ist das Fahrverhalten zwar nicht ganz so radikal hecklastig ausgelegt, wie im Jaguar F-Type R AWD Coupé und erinnert mehr an einen typischen Allradler, das Heck steht trotzdem Gewehr bei Fuß, wenn mit dem Gas entsprechend radikal umgegangen wird. In Zeiten aber, in denen kompakte per Drift-Mode um die ecken queren und Pony Cars einen Burnout-Assistenten an Bord haben, ist es damit noch lange nicht getan und so haben auch die Damen und Herren in Affalterbach an die richtigen Bits und Bytes gedacht und auch dem brutalstem Taxi der Welt einen Dorifto Mode einprogrammiert. Race Mode, ESP Aus, manueller Getriebemodus, beide Schaltwippen ziehen und zack, schon geht es mit nur einen angetriebenen Achse in beliebigen Winkeln quer.

Der E 63 hat also nichts von seinen Qualitäten als reifenvernichtendes Ungeheuer eingebüßt und die 612 PS stehen zur Verfügung, um einen Satz Gummis so schnell zu schreddern, wie ein Bankster seine Unterlagen bei einer Hausdurchsuchung. Dafür sorgt der weiter überarbeitete 4-Liter-V8-Treibsatz, den man bereits aus dem AMG GT und dem Mercedes-AMG C63 S kennt, nun allerdings erstmals mit zwei TwinScroll-Ladern zwischen den Zylinderbänken im „heißen V“. Dadurch werden 850 Nm Drehmoment möglich und mit 612 PS eine neue Spitzenleistung für dieses Triebwerk. Freilich, ein wenig büßt diese Maschine akustisch immer noch gegen den alten Sechszweier-Sauger ein, da aber auch die vorige E-Klasse bereits mit Zwangsbeatmung unter kleineren klanglichen Defiziten leiden musste, fällt das hier nicht weiter auf. Und man kann AMG nicht vorwerfen, sie hätten ihre Hausaufgaben in der Akustikwertung nicht gemacht: denn wie dieser Motor aus dem Kaltstart erwacht, wie ein wohnhausgroßer Schiffsdiesel vor sich her bollert und eine knüppelharte V8-Doublebass herausstampft, sobald mehr Gas anliegt, ist nicht nur für einen Turbomotor eine Pracht.

Nach wie vor müssen allerdings gute 2 Tonnen lebendgewicht bewegt werden. Womit der Motor so überhaupt keine Mühe hat, ist dem Rest des Paketes schon etwas mehr Anstrengung abzukaufen. Denn wenn Du etwas zu optimistisch in die Kurve hineinstichst, arbeiten die kleinen Gizmos an Bord zwar so wild sie nur können, sind mit all ihrer Allradtrickserei und Kurveninneresradbremserei aber dennoch der Physik unterlegen. 2 Tonnen schieben dann halt unbarmherzig und du verhungerst irgendwo weit ab vom Scheitelpunkt neben der Ideallinie. Vielleicht ist es auch das klaglich versagende Hirn, das mit der Art und Weise, wie diese Fuhre sich nach vorn beamt, überfordert ist und nicht auf die Geschwindigkeiten justiert ist, die am Bremspunkt tatsächlich schon anliegen. Vielleicht ist es auch die Bremsanlage, die etwas bissiger ansprechen dürfte – egal. 2 Tonnen sind 2 Tonnen. Das heißt: Hirn neu kalibrieren und auf eine weitere Runde.

Slow in, Fast out!

Den typischen Allradleitsatz „Slow in, fast out“ einmal verinnerlicht klappt’s dann: was man beim Einlenken und anvisieren des Scheitelpunkts noch an Vorsicht auf’s Guthabenkonto einspart, kann man ab dem Apex mit fetten Zinsen wieder raushauen. Denn was das Ding hier abfeiert ist völlig abnormal. Egal wie sehr man auf das Gaspedal eindrischt, der E 63 S schnaubt sich seicht übersteuernd mit unbarmherziger Traktion aus der Kurve hinaus, verteilt die Last feinfühlig zwischen den Achsen – und hinten, dank elektronisch geregelter Hinterachssperre, auch innerhalb selbiger. Fast noch erstaunlicher ist, wie unfassbar effektiv das luftgefederte AMG Sportfahrwerk gegen jegleiche Wankbewegung ankämpft und sich auch von keine noch so unnachgiebigen Bodenwelle aus der Ruhe bringen lässt. Rückblick auf den C63: wer Axel und mein Video aus Portugal kennt (bei Minute 5:25 findet ihr die entsprechende Stelle), weiß von dieser einen, fiesen Bodenwelle, die uns dort heftig aus den Federn gehoben hat. Der E 63 S geht einmal saftig drüber, schmatzt die Bodenwelle unter sich weg und fährt ohne jegliche Nachschwingung weiter, als wäre nichts gewesen. Beeindrucken.

Mercedes-AMG E 63 S 4MATIC+

Fazit

Beeindruckend ist auch nach wie vor, auf was für einem Niveau sich die neue E-Klasse generell bewegt. Sei es die Verarbeitung, das Innenraumdesign, der Komfort oder die unendlich große Armada an Assistenzsystemen. Was die E-Klasse so oder so schon zur perfekten Businesslimousine, hat sie beim AMG in keinster Weise eingebüßt. Was sie zudem nun fahrdynamisch zu leisten im Stande ist grenzt an Realitätsverweigerung. Daneben ist der E63 übrigens auch der einzige seiner Klasse, der sowohl als Limousine, als auch als Kombi zu bekommen sein wird. Die Limousine ist ab Frühjahr verfügbar, das T-Modell wird später vorgestellt. Ein Tracktool ist sie nach wie vor freilich nicht, doch mehr denn je dürfte wohl kein Auto aus dieser Klasse so gut auf der Rennstrecke aufgehoben sein. Vielleicht ist es an der Zeit, das klassische BMW M5 Ringtaxi auszusortieren und den Job einem echten Taxi zu überlassen? Gut passen würde es.

Text: sb
Fotos: Werk/sb

Technische Daten

Mercedes-AMG E 63 S 4MATIC+

Motor-Bauart:
V8 DOHC mit Bi-Turboaufladung (2 TwinScroll Lader), Wasser-LLK, Direkteinspritzung und Zylinderabschaltung
Hubraum:
3.982 cm³
Leistung:
450 kW / 612 PS bei 6.500 U/Min
Drehmoment:
850 Nm bei 2.500 – 4.500 U/Min
Höchstgeschwindigkeit:
300 km/h
Beschleunigung (0-100 km/h)
3.4 Sekunden
Verbrauch (innerorts / ausserorts / kombiniert):
11.7 L / 7.6 L / 9.1 L SuperPlus (ROZ 98)

Leergewicht:
1.955 kg
Max. Zuladung:
570 kg
Abmessungen (Länge/Breite/Höhe):
4.993 mm / 1.907 mm / 1.460 mm

Disclosure zur Transparenz

Ich wurde von Mercedes-Benz nach Portimao, Portugal eingeladen. Reisekosten, Verpflegung und Übernachtung wurden von Mercedes-Benz übernommen. Der Text spiegelt meine persönliche Meinung wieder.


Autor

Gründer und überwiegender Texter hinter passion:driving. Leidenschaftlicher Car-Nerd, immer auf der Suche nach dem Rande des Kammschen Kreises und viel zu häufig auf irgendwelchen Rennstrecken unterwegs. Anglophil veranlagt, liebt britische Sportwagen und fährt eine Lotus Elise S1, um das eigene, eher nachteilige, Leistungsgewicht wieder auszugleichen. Neben passion:driving schreibt er als freier Autojournalist (Mitglied im Verband der Motorjournalisten) auch für die heise autos und andere Publikationen.

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